Auszug aus: Theodor Heuss, Liebe ist Dank, Dank ist der Preis (vor der Heidelberger Universität, 13. Mai 1953)
„Im Spätjahr 1943 wurde ich hier in Heidelberg für fast zwei Jahre Dachkammer-Gastbürger der Stadt. Und in diesen Jahren erneuerten und festigten und fanden sich Freundschaften; es war nahe daran, daß ich ein Heidelberger Dauerbürger geworden wäre. Aber das Schicksal, eine Kombination von USA und Reinhold Maier, holte mich nach Stuttgart als Kultminister! Das würde, dachte ich, den Zusammenhang mit Heidelberg in der akademischen Ebene geben und festigen – eine große Täuschung, Enttäuschung und Selbsttäuschung.
Nach dem Einmarsch der Amerikaner hatten diese zunächst, wie überall, die Universität geschlossen. Der damalige Rektor, Professor Bauer, hielt es nicht für richtig. Er erkämpfte die Arbeitsmöglichkeiten für die Mediziner. Aber sein Weiterdrängen stieß auf Widerstand, auch auf Widerstand von deutscher Seite, nicht bloß bei der Besatzung. Denn unfrohe Ereignisse der letzten Vergangenheit hatten auch bei Deutschen ein Ressentiment sich stauen lassen: „Das mit den Universitäten, das eilt nicht so sehr.“ Es gab eine denkwürdige Sitzung mit den amerikanischen Offizieren, in der von hervorragender deutscher Seite alles an Bedenken und Verstimmungen beredt vorgetragen wurde, bis ich ungeduldig und unhöflich, den Sprecher unterbrechend, auf den Tisch schlug: „Saudumm’s Gschwätz!“ – Das war weder pfälzisch noch badisch, noch amerikanisch, sondern sehr schwäbisch und sehr unpassend, aber offenbar allgemein verständlich. Denn von diesem Augenblick an ging es; die Amerikaner begriffen meine nachfolgenden Argumente. Es war für mich nur der Startschuß gewesen, und dann mußte ich in die Zuschauerreihe zurücktreten.
Dieser Schlag auf den Beratungstisch war neben kleinen Bemühungen der einzige Liebesdienst, den ich der Universität geleistet habe. Er hat ihr und vor allem der vom Krieg hierher zurückströmenden Jugend – wenn ich die Dinge richtig sehe – ein Semester gerettet. Er war offenkundig so taktlos wie erfolgreich. Von ihm beziehe ich die Unbefangenheit, an diesem Tag zu sprechen, denn er hat über die vielen persönlichen Beziehungen hinweg eine sachliche Verwobenheit mit der Heidelberger Universität begründet.
(…)
Als letzten und doch als ersten nenne ich Max Weber. Gewiß werden manche nicht mit dem einverstanden sein, was ich jetzt sage: daß er die in Menschentum und wissenschaftlicher Leistung hervorragendste Erscheinung war. Daß ich seinen Namen nenne, ist nicht bloß Dank, sondern Bekenntnis. Die Begegnung mit ihm hat den jungen Menschen, erschreckend und erhebend, ins Bewußtsein gerückt, was Größe ist.
Ich will nicht versuchen zu analysieren, zu charakterisieren. Max Weber ist nicht nur Heidelberg, das seine tragische und seine große Zeit umhegt hat. Ich will eine einfache Geschichte erzählen. Als ich vor einigen Tagen Gespräche mit dem norwegischen Außenminister Lange hatte und wir auch Reden wechselten, wobei ich von Björnson und Munch einiges sagte, erwiderte er – ich war stark berührt-: Der für ihn lebensbestimmende Eindruck sei die Begegnung mit dem Werk von Max Weber gewesen, durch einen norwegischen Freund vermittelt. Den Menschen kannte er nicht. Ich durfte ihm von ihm erzählen und spüren, auch ein paarmal sonst, wie diese Kraft draußen in der Welt Menschen bindet.
Wenn ich mit Sigismund von Reitzenstein jetzt reden könnte, dem ersten Kurator dieser hohen Schule, der die gelegentlich in der Geschichte sich zeigende Verschwägerung von liberaler Einsicht und autokratischem Willen darstellt, so würde ich ihm sagen: „Professoren sind keine Götter, keine Halbgötter; es sind Menschen, es sind halt auch bloß Leut‘!“ – wie ich übrigens auch für den Beruf des Bundespräsidenten das schon vor drei Jahren einmal bestätigt habe.
Ich spreche mit einer angemessenen ehrfurchtsbereiten Illusionslosigkeit; in der freien Autonomie der Universität steckt die Chance, wenn nicht zum Guten, so doch zum Besseren. Besser als das, ganz legitim, politisch bestimmte Ministerium und seine Beamtung.
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Und nun kommt die eigentümlich komplexe Lage: Der Selbstverwaltungscharakter der Universität ist in Deutschland, historisch bedingt und, wie ich meine, sachlich wohltätig, ein Privileg innerhalb der Staatsverwaltung. Aber dieses Privileg ist kein rechtsförmiges Ruhekissen, sondern eine tägliche Aufgabe der Bewährung, ein Ziel, auf das Wesenhafte der Wissenschaft gerichtet, der Wille zur Erkenntnis, der Wille!
Nicht jeder, der in einer Fakultät steckt, entspricht ihm mit letzter Vollkommenheit. Ich rede jetzt von meinen eigenen Lehrern. Vor über 50 Jahren habe ich die Universität bezogen. Einige meiner Lehrer stehen heute noch im Bewußtsein der Gelehrten-Geschichte und, darüber hinaus, des Volkes. Andere dieser Lehrer sind vielleicht zu einer Fußnote in einem geistesgeschichtlichen Kompendium geworden. Sie waren – das spürten wir damals schon – keine originalen Forscher, aber sie waren ausgezeichnete Lehrer und Pädagogen. Manchen von ihnen, deren Namen heute kaum einer mehr kennt, werde ich immer, immer dankbar sein.
Aber nun ist das Gespräch mit dem Kurfürsten Karl-Friedrich längst vergessen und das mit dem Reitzenstein, das ich ein paarmal versuchte, immer wieder zerstört. Es ist aus dem, was ich Ihnen historisch deuten wollte und was ich Ihnen nur epigrammatisch mitteilen konnte, ein Monolog der persönlichen Erinnerungen, der Impressionen und Reflexionen geworden. Sei’s drum!
Ich bin zwar bloß aus Württemberg, habe aber 33 Jahre in Berlin gelebt, und dann entdeckte ich früh genug Fontane, und irgendwann war ich unmittelbar angesprochen, als er gestand, ihm fehle „das Talent zur Feierlichkeit“. Mir fehlt es auch! Doch glaube ich, eine gewisse mittlere Begabung für sachliche Liebe zu besitzen. Sie ist ohne Verdienst. Diese gilt Heidelberg, der Stadt, dem Fluß meiner Kindheit, dem „schicksalskundigen“ Schloß der frühen Entzückungen und der Hohen Schule, des, nach frühem und spätem Verdunkeltsein, immer wieder aufschimmernden, aufleuchtenden Bekenntnisses zum Abenteuer und Gewinn des freien Forschens und Lehrens.
Liebe ist Dank, Dank ist der Preis!“
(nach: Theodor Heuss, Die großen Reden. Der Humanist. Tübingen 1965, S. 140ff.)